Anette Naumann

Das Eigene und das Fremde

In den Werken von Jette Slangerod begegnen uns sonderbare Geschöpfe, formatfüllende Riesenformen und winzige Kleinstgestalten. Die Tatsache, dass es sich um Malerei handelt, tritt zurück hinter dem beeindruckend beunruhigenden Auftritt dieser Wesen, die wie aus einer anderen Welt sich auf dem Bildträger manifestieren. Die Titel der einzelnen Werkgruppen deuten auch schon an, „dass es Besucher“ sind, die unsere Umgebung betreten oder auch in sie eindringen, das heißt, eine unsichtbare Grenze überschreiten: die zwischen Bildraum und Lebensraum.

Grenzüberschreitung zeigt sich sowohl in der Wahl des Bildträgers als auch des Motivs. Der Begriff Motiv ist insofern angebracht, als sich ihre abstrakte und auf Struktur basierende Malerei im Laufe der Zeit zu deutlich fassbaren, mehr oder weniger konturierten Figurationen hinentwickelte. Nicht Figuren gegenständlicher Art, und doch so sinnlich erfahrbar wie ein konkretes menschliches oder kreatürliches Gegenüber. Woher kommen diese Bildgestalten, die entweder so klein sind, dass sie wie durch ein Mikroskop gesehene Wechseltierchen wirken oder in Überlebensgröße die Betrachter auf geradezu bedrohliche Weise konfrontieren?

Slangerods bildnerische Inspiration speist sich aus zwei Quellen, den Gestaltbildungsprozessen der Natur und den kaum zu versprachlichenden, jedoch visualisierbaren Gefühlsqualitäten der menschlichen Psyche.

In Bezug auf Erstgenanntes untersucht sie zum Beispiel im alltäglichen Leben, wie sich bestimmte Substanzen unter Hitzeeinwirkung verhalten und welche Formen sie dabei einnehmen, welche Fleckenformen durch Flüssigkeiten auf einem Trägermaterial entstehen, oder welch eingebuchtete Umrisse sich durch Schrumpfung und Zerfall organischer Rundformen wie Orangen oder Auberginen ergeben. Werkreihen wie »Intramorphose« oder »Voksværk« basieren auf Erfahrungen dieser Art, während »Portraits I« noch weiter geht in der Ausdifferenzierung potentieller, natürlich anmutender Gestaltorganisation. Dabei ist es der Malerin darum zu tun, einerseits so analog zur Natur zu arbeiten, dass die Betrachtenden ihre Formfindungen als gegeben hinnehmen, und andererseits eine formale Rafinesse zu erzeugen, die den Blick aufmerksam werden lässt für die spezifischen Eigenheiten einer solchen Bildformulierung.
In den »Portraits« genannten Charakteren gewinnen diese Farbformen einen psychologischen Wert, der es durchaus vergnüglich macht, deren Eigenschaften zu vergleichen, die sich aus den Umrissen, den Bewegungsrichtungen der kleinen Tentakel und der Farbgebung ergeben. Sie hocken oder strecken sich, schießen oder zittern und präsentieren sich insgesamt als Individuen unterschiedlichen Temperaments. In der zweiten Gruppe der »Portraits« sowie den »Kopenhagenern«, denen Begegnungen mit realen Menschen zugrundeliegen, sind ʼÄhnlichkeiten mit lebenden Personenʼ zwar direkt beabsichtigt, nicht aber in abbildlichem Sinne eingelöst.

Wenn die Betrachterin sich bis dahin noch begreiflichen, mit eigenen Körpererlebnissen und Welterfahrungen in Beziehung zu setzenden Gebilden gegenüber sah, so fremd und nie gesehen erscheinen die ʼLebewesenʼ auf den großen Leinwänden. »Visitors«, neutrale Besucher, sind es zunächst, die den Raum bevölkern und erst in zwei folgenden Werkreihen zu Invasoren werden, doch haben sie bereits in ihrer überlebensgroßen Ausgestaltung eine transgressive Wirkung, die entschieden in die persönliche Schutzzone des eigenen territorialen Umraums eindringt. In dem Bild auf Seite 46 [bleibt die Zählung so?] ist in der ausschwingenden Bewegung nach links eine angestaute Energie erfahrbar, die wie bei einer gezogenen Zwille darauf wartet, mit Schwung in die Gegenrichtung entladen zu werden – und man möchte nicht im Schussfeld stehen. Bei der vielgliedrigen gelblichen Gestalt entsteht der Eindruck einer Drehbewegung sowie die Vermutung, sie könne gleich durch den gesamten Raum kugeln. Die beiden mit „Invasion“ betitelten Werke kommen einmal mit plötzlicher Heftigkeit, einmal in schleichender Teilchen-Akkumulation dem Betrachter entgegen, der sich erdrückt und im Begriff verschlungen zu werden wähnt.

Ihre Genese hängt zusammen mit der Suche nach Bildformen und Untergründen, die den Ausstrahlungskräften der Farbe keine viereckige Begrenzung entgegensetzen. Nachdem Vertreter der abstrakten Farbmalerei wie Elsworth Kelly, Frank Stella und Raimer Jochims die Rechtwinkligkeit des klassischen Bildträgers aufgebrochen hatten, bestand Slangerods Frage nun nicht mehr nur darin, die Bewegungsimpulse der Farbe und der Form zu erforschen, sondern auch die Interaktion zwischen Bild und Umraum zu bearbeiten.

„Geschlossene Tafelbilder herkömmlichen Typs sind gegen äußere Faktoren mehr oder weniger immun. Bilder dagegen, die ihre Pointe darin haben, den Bick über sich hinauszutragen, in einen, wie Matisse sagte, unbestimmten, einen ʼplastischen Raumʼ, lassen sich auf die jeweilige Gelegenheit, den jeweiligen Kontext ein, sie öffnen ihm ihre Grenzen, gleichsam ihre Tore.“

Gottfried Boehm: »Ausdruck und Dekoration – Die Verwandlung des Bildes durch Henri Matisse«,in ders.: »Wie Bilder Sinn erzeugen – Die Macht des Zeigens«, Berlin 2008, S.185

Die Grenzöffnung geschieht in Slangerods Werken auf drei verschiedene Weisen. Die Bildträger der freien Farbformen wie »Seltsame Dinge« oder »Invadors« haben fließende Umrisse, die als vagabundierende Bildobjekte auf der Wand erscheinen. Der jeweilige architektonische Bezug, der situative Kontext, gewinnt gegenüber gerahmten Bildern an Bedeutung, indem der Blick an den Außenkanten entlang in verschiedene Richtungen über die Bildfläche hinaus geführt wird und die gemalten Objekte mit den ungemalten Gegenständen der Umgebung in ein Korrespondenzverhältnis treten. Letzteres geschieht intentional durch das Andocken an Raumelemente wie Türen, Fenster und Deckenlinien.

In den auf durchsichtige Bildträger gemalten Zyklen erscheint das Motiv fast frei im Raum, auf besonders eklatante Weise bei der im Raum aufgehängten Reihe „Rückkopplung“. Die Folien respective Acrylglasplatten treten in der Wahrnehmung als dienender Untergrund so weit wie möglich zurück – je größer die Fläche, desto mehr – auch wenn sie als Gestaltungsmittel mitwirken. Die kleineren Formate, bei denen die Farbform auf mehreren übereinandergeschichteten, leicht variiert bemalten Folien als Komplex mit unscharfen, lockeren Rändern entsteht, beziehen sich freilich mehr auf die Größe des Bildträgers als auf den Raum. Die Grenzöffnung wird hier vornehmlich durch die Beweglichkeit der Saumzone erlebt, die aus den farbigen Formen amöbenähnliche Einzeller (die keine feste Körpergestalt besitzen, sondern durch die Ausbildung von Scheinfüßchen laufend ihre Gestalt verändern) werden lassen. 

Bei Slangerods Leinwandbildern geschieht die Verschwisterung mit dem Umraum dadurch, dass die direkt auf weiße Wände angebrachte weiße Leinwand noch als Grund zu sehen bleibt und quasi als Verlängerung der Architektur fungiert. Ähnlich wie in der Malerei des Konstruktivismus der neutrale wandähnliche Untergrund die vektorialen Kräfte der über die Bildgrenzen hinwegweisenden Bildlinien verstärkt zur Wirkung brachte und ein bildnerisches Kontinuum angestrebt wurde ², zielt auch ihre Malerei auf eine Überschreitung der Kunstsphäre in die Lebenswelt:
Ihre auf der Leinwand agierenden Figurationen sind an einer Stelle der vier Bildränder, zumeist am Boden, leicht angeschnitten, und gehen somit in der Vorstellung außerhalb des Bildes weiter. An manchen Stellen gibt es gemalte Übergangsstellen zu der Wand, auf der sie hängen. Eine bestimmte Position im Raum, von der Decke oder einer Raumesecke ausgehend, ist vorgesehen, so dass die Betrachtenden die Wirkung einer wie aus der Wand heraustretenden Erscheinung erleben und sich selbst als Gegenüber des Kunstwerks verorten müssen.
Wo bin ich, und wo erlebe ich meine eigenen Grenzen, als Individuum, in der Gemeinschaft. Jettes Slangerods Arbeiten, die solche Fragen aufwerfen, sind eigen und sind fremd –konsistente Bildformulierungen, die diejenigen, die sich ihnen aussetzen, packen und nicht mehr loslassen.

So wie sich die Bildgestalt als einheitliche, konsistente Form nur innerhalb eines Wahrnehmungsprozesses etabliert, der die Bewegungspotentiale dieser spezifischen Individuen abtastet, müssen sich auch die Rezipienten fragen, was zu dem Eigenen und dem Fremden gehört.

² Vgl. z.B. die Intentionen von El Lissitzkys Prounenraum und die Verschmelzung der Gattungen in Gottfried Boehm: »Das bildnerische Kontinuum – Gattung und Bild in der Moderne«, ebd. S. 173 ff.